Unter der Abkürzung BBS (Behavior Based Safety) ist auf Kongressen und in Seminaren immer häufiger von einem neuen Ansatz für den betrieblichen Arbeitsschutz die Rede. Hunderte von Betrieben setzen das Konzept bereits erfolgreich um, doch viele Arbeitgeber und SiFas haben sich noch kaum mit dem sogenannten verhaltensorientierten Arbeitsschutz auseinandergesetzt.
Behavior Based Safety (BBS) steht für ein Konzept, welches Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaft auf die betriebliche Arbeitssicherheit anwendet. In Deutschland wird dieser Ansatz zunehmend bekannt als „Verhaltensorientierter Arbeitsschutz“.
Verhaltensorientierter Arbeitsschutz bietet neue Ansätze
Ausgangspunkt des verhaltensorientierten Arbeitsschutzes sind 2 grundlegende Erkenntnisse:
- Trotz einer weit entwickelten Sicherheitstechnik, einer Vielzahl von Vorschriften, hochwertiger PSA und immer neuer Aufklärungs- und Sicherheitskampagnen scheinen die Arbeitsschutzbemühungen an Grenzen zu stoßen.
- In der weitaus überwiegenden Zahl von Arbeitsunfällen haben nicht die Sicherheitseinrichtungen versagt, sondern Mitarbeiter sich nicht sicherheitsgerecht verhalten. Je nach Studie und Quelle sind zwischen 80 und weit über 90 % aller Arbeitsunfälle verhaltensbedingt.
Das bedeutet: Neue Ansätze zum weiteren Reduzieren von Unfallzahlen müssen am Verhalten ansetzen. Technische Einrichtungen, organisatorische Maßnahmen, Schutzausrüstung und Aufklärung allein reichen nicht aus, um ein hohes Maß an Sicherheitsbewusstsein nachhaltig im Unternehmen zu etablieren. Hier setzt verhaltensorientierter Arbeitsschutz an.
In 5 Schritten zur nachhaltigen Verhaltensänderung
Verhaltensorientierter Arbeitsschutz gilt als die erfolgreichste Methode zur Verhaltensänderung von Mitarbeitern. Das Grundprinzip beruht auf 5 Schritten:
1. Sicheres Verhalten präzise definieren
Im ersten Schritt legen Sie ein sicheres Verhalten bei einer bestimmten Aufgabe fest. Formulieren Sie dabei so konkret wie möglich. Formulierungen wie „ PSA benutzen“ „Sicher stapeln“ oder „Arbeitsplatz sauber halten“ sind für BBS untauglich. Besser wäre: „Maximal 5 m hoch stapeln“, „Verschüttete Flüssigkeiten sofort entfernen“ oder „Atemschutz mit Partikelfilter mindestens der Klasse P2 tragen“.
2. Das Verhalten vor Ort beobachten
In Schritt 2 heißt es, genau hinzuschauen. Tritt das festgelegte Verhalten tatsächlich auf und wie oft? Diese Beobachtung kann von außen erfolgen, aber auch, indem Mitarbeiter sich gegenseitig oder selbst beobachten. Beides erscheint zunächst schwierig umzusetzen und kann auf Vorbehalte stoßen. Doch Erfahrungen von Betrieben mit BBS zeigen, dass Beobachtungen funktionieren und von den Mitarbeitern nicht als unangenehm empfunden werden. Grobe Einschätzungen à la „Die meisten verhalten sich wie vorgeschrieben“ sind hier allerdings zu wenig, vor allem, wenn sie von einem Vorgesetzten kommen und Mitarbeiter das sichere Verhalten aufgeben, sobald dieser nicht in der Nähe ist.
Stattdessen könnten Sie z. B. Kärtchen ausgeben, auf denen Mitarbeiter festhalten, wie oft eine Last falsch gehoben wird oder eine Schutzbrille nicht getragen wird. Ziel ist ein anonymes, aber realistisches Abbild des Sicherheitsverhaltens im Unternehmen. Beachten Sie dabei die Anforderungen des Datenschutzes und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates.
Beobachten könnte z. B. auch bedeuteten, dass jemand einen Kollegen bei einer Tätigkeit beobachtet und ihm anschließend Feedback gibt, ob die Tätigkeit zu 100 % sicherheitsgerecht ausgeführt wurde. Am nächsten Tag werden die Rollen dann getauscht.
3. Feedback zum Verhalten geben
Entscheidend ist Schritt 3. Denn eine Verhaltensveränderung erfolgt nur nach einer Rückmeldung. Das kann ein Lob für sicherheitsgerechtes Verhalten bedeuten, aber BBS geht darüber hinaus und fordert: Feedback soll systematisch werden und positiv, d. h. konstruktiv sein.
Es geht in diesem Schritt nicht um eine Bespitzelung oder gar Disziplinarmaßnahmen. Es geht darum, dass das erwünschte Verhalten Wertschätzung erhält und auf Fehlverhalten eine konstruktive Kritik folgt.
4. Ziele für eine Änderung des Verhaltens setzen
Nur Ziele, die im Unternehmen bekannt sind, können angestrebt werden. Das Ziel in Schritt 4 sollte möglichst konkret sein. Der allgemeine Wunsch, die Zahl der Arbeitsunfälle zu reduzieren, taugt wenig für den BBS-Ansatz. Besser geeignet sind klare Ziele, auch mit Zwischenetappen, z. B. in 40, dann 60, dann 80 % der Hebevorgänge den Rücken gerade zu halten oder das Aufsetzen von Gehörschutz vor Betreten der Werkhalle auf 100 % zu steigern.
5. Sicheres Verhalten positiv verstärken
Schritt 5 nennt den zentralen Punkt der verhaltensorientierten Arbeitssicherheit: die positive Verstärkung. Ein Verhalten wird durch seine Konsequenzen mitbestimmt und aufrechterhalten. Verhaltensanalytiker verdeutlichen am sogenannten ABC-Modell, warum ein Mensch etwas tut oder lässt, sich riskant oder sicher verhält. Nach diesem Modell wird Verhalten durch eine Abfolge von 3 Faktoren bestimmt (siehe unten stehende Grafik).

© Safety Xperts: Verhaltensorientierter Arbeitsschutz im ABC-Modell
A (Antecedents, Activator): die vorausgehenden Bedingungen oder der Aktivator, z. B. eine Betriebsanweisung, ein Gebotsschild oder ein Warnsignal.
B (Behavior): die darauf erfolgende Aktivität, z. B. das Aufsetzen der Schutzbrille, das Stoppen der Anlage vor dem Hineingreifen usw.
C (Consequences): die nachfolgenden Konsequenzen, z. B. Kritik oder Anerkennung; bleiben Konsequenzen aus, wird sich ein Verhalten nicht ändern.
Das ABC-Modell im Arbeitsschutz
Das Rückwirken von Konsequenzen auf unser Verhalten lässt sich auch im Arbeitsschutz gut beobachten. Beim Umgang mit heißen Gegenständen wird jeder einen Schutzhandschuh nutzen, denn ansonsten erfolgt die Konsequenz Schmerz, die auf das Verhalten in der nächsten Situation rückwirkt und das Verhalten ändert. Ein Schweißer wird seinen Blendschutz nur einmal „vergessen“, denn einige Stunden später werden seine Augen wehtun und tränen.
In vielen Arbeitssituationen reichen jedoch die natürlichen Konsequenzen eines Fehlverhaltens nicht aus. Denn Unfälle sind seltene Ereignisse und die Folgen falscher Verhaltensweisen treten oft erst viel später auf wie das Hautekzem, das Rückenleiden oder die Schwerhörigkeit.
Sicheres Verhalten hat somit oft keine direkt wirksamen positiven Konsequenzen. Im Gegenteil, es kann sogar mit einem „Nachteil“ verbunden sein. Unter Gehörschutz schwitzt man, die Leiter zu holen, ist zu umständlich,
die Maschine bei einer Störung komplett abzuschalten kostet zu viel Zeit usw. Der Mitarbeiter findet dann Gründe, sich nicht sicherheitsgerecht zu verhalten, und ihm fehlen Gründe für das erwünschte Verhalten.
Sicheres Verhalten erhält positive Konsequenzen
An diesen Situationen, die in jedem Betrieb vorkommen, setzt BBS an und führt positive Konsequenzen für sicheres Verhalten ein. Wo natürliche Rückkopplungseffekte fehlen, soll das notwendige Feedback in der Unternehmenskultur verankert werden. Denn wenn es keinen zu kümmern scheint, dass man sich sicherheitskonform verhält, wird man es lassen. Durch BBS soll der Mitarbeiter sicheres Verhalten als positiv
erleben. Dadurch wird das Verhalten häufiger und schließlich zur Gewohnheit.
Diese positive Verstärkung kann viele Formen annehmen. Materielle Belohnungen gelten nicht als die beste Lösung, auch wenn manche Unternehmen mit kleinen Geschenken oder Gutscheinen für das Erreichen eines Ziels (s. Schritt 4) arbeiten.
Auch das persönliche Lob vom Meister, ein „Daumen hoch“ und ein anerkennendes Nicken wirken als Verstärker. Ein solches positives Feedback wirkt umso stärker, je authentischer, konkreter, individueller und persönlicher es übermittelt wird. Auch sollte es möglichst unmittelbar auf das richtige Verhalten erfolgen, nicht erst bei der nächsten Unterweisung.
Positive Verstärkung funktioniert nachweislich
Sie sind skeptisch? Es gibt viele Alltagsbeispiele, dass positive Verstärkung wirkt. Wenn Sie beim Einkaufen oder Tanken nach einer Kundenkarte oder Treuepunkten gefragt werden, geht es um positive Verstärkung. Jeden Tag werden in Deutschland millionenfach Payback-Karten gezückt. Der kleine Rabatt (Verstärker) wirkt auf das Verhalten (hier erneut einkaufen). Das funktioniert! Auch wenn jedem klar sein müsste, dass man den Rabatt längst mit bezahlt hat.
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3 Voraussetzungen für das BBS-Konzept
Damit verhaltensorientierter Arbeitsschutz funktioniert, sind 3 Dinge notwendig:
- BBS muss oben ansetzen: Vorgesetzte müssen nicht nur mit gutem Beispiel vorangehen und sich vorbildlich verhalten. Sie müssen auch eine Atmosphäre schaffen, in der unsicheres Verhalten nicht „übersehen“ und damit toleriert oder nur als lästige Pflicht begriffen wird. Es genügt gemäß BBS auch nicht, Mitarbeiter nur auf Fehlverhalten anzusprechen. Stattdessen sollen Vorgesetzte jedes sichere Verhalten anerkennen und dem Mitarbeiter dafür Wertschätzung zeigen.
- Verhaltensorientierter Arbeitsschutz muss die Mitarbeiter einbinden: Das bedeutet, dass die Verantwortlichen das Konzept und seine Schritte vorab erläutern müssen. Optimal ist, wenn Sie Ihre Mitarbeiter zu einer Teilnahme motivieren können, gemeinsam sichere Verhaltensweisen klar definieren und sich Freiwillige melden, die Beobachtungsaufgaben übernehmen.
- BBS bedarf einer offenen Fehlerkultur: Es gibt leider oft Hemmschwellen, einen Kollegen auf einen Fehler aufmerksam zu machen. Auch ist es in den meisten Unternehmen üblich, nur bei Fehlverhalten ein Feedback zu geben. In einer offenen Fehlerkultur ist Feedback erwünscht und richtet sich nicht gegen eine Person. Es geht nicht darum, einen „Schuldigen“ ausfindig zu machen, sondern das sichere Verhalten zu finden und selbstverständlich werden zu lassen.
Verhaltensorientierter Arbeitsschutz ist eine Ergänzung
Verhaltensorientierter Arbeitsschutz ersetzt nicht den klassischen Arbeitsschutz, sondern ergänzt ihn als Teil eines modernen Arbeitsschutzmanagements. Der Mensch bleibt im Arbeitsschutz ein Risikofaktor. Wer im Betrieb ein hohes Sicherheitsniveau erreichen will, muss auch am Verhalten seiner Mitarbeiter ansetzen. Verhaltensorientierte Arbeitssicherheit bietet einen vielversprechenden Ansatz dazu.
Fazit
- Überwiegend geschehen Arbeitsunfälle auf Grund der Mitarbeiter, welche sich nicht sicherheitsgerecht verhalten
- zwischen 80 und weit über 90% aller Arbeitsunfälle sind verhaltensbedingt.
- Wo natürliche Rückkopplungseffekte fehlen, soll das notwendige Feedback in der Unternehmenskultur verankert werden
- Ein positives Feedback des Vorgesetzten wirkt umso stärker, je authentischer, konkreter, individueller und persönlicher es übermittelt wird.
- es sollte möglichst unmittelbar auf das richtige Verhalten erfolgen, nicht erst bei der nächsten Unterweisung
- Vorgesetzte sollten nicht nur mit gutem Beispiel vorangehen und sich vorbildlich verhalten, sondern auch eine Atmosphäre schaffen, in welcher unsicheres Verhalten nicht toleriert wird
- Verhaltensorientierter Arbeitsschutz muss vor allem auch die Mitarbeiter einbinden
Autor: Friedhelm Kring
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Checkliste: Gesunde Unternehmenskultur (DOCX)