Damit es nur beim Beinahe-Unfall bleibt, sollten Sie dieser Unfallart genügend aufmerksamkeit schenken und eine gute Fehler- und Lernkultur etablieren. Wie Ihnen das gelingt, erfahren Sie in diesem Artikel.
Der Beinahe-Unfall ist das Ergebnis aus gefährlichen Begebenheiten bei der Arbeit, bei denen jedoch nichts passiert ist, also kein Unfall vorliegt. Doch auch wenn sich niemand verletzt hat und keine Meldung an die Unfallversicherer geschickt werden muss, sollten Sie den Unfall dennoch intern aufbereiten. Denn jeder Beinahe-Unfall kann eine wichtige Lernquelle sein.
Was Sie aus der Unfallpyramide lernen können
Unfallforscher verwenden beim Erläutern des Arbeitsunfallgeschehens gern das Modell der Unfallpyramide. Dieses unterscheidet mehrere Stufen der Unfallschwere, die nach deren Häufigkeit von unten nach oben übereinandergestapelt werden. Dabei ergibt sich die Form einer Pyramide (s. Abbildung).

Wie Sie deutlich in der Abbildung sehen können, werden Beinahe-Unfälle zwar als weniger schwerwiegend eingestuft, sie treten aber deutlich häufiger auf. Umso wichtiger, dass Sie schon an dieser Stelle ansetzen und jeden Beinahe-Unfall als Anlass zur Verbesserung nehmen.
Das bedeuten die 4 Ebenen der Unfallpyramide
- Beinahe-Unfall: riskantes Verhalten, kritische Situation, Häufigkeit ist hoch à la „Tausend mal ist nichts passiert …“
- Leichter Unfall: kleine Verletzung, Erste Hilfe ist erfolgt, aber keine weitere medizinische Betreuung notwendig, Weiterarbeiten ohne größere Pause möglich
- Schwerer Unfall: schwere Verletzungen mit medizinischer Versorgung, Ausfallzeiten oder Klinikaufenthalt
- Tödlicher Unfall: Betroffener unterliegt seinen Verletzungen
Beginnen Sie unten beim Beinahe-Unfall
Dieses Modell der Unfallpyramide ist aus folgendem Grund bei der Auswertung von Arbeitsunfällen so wichtig: Wenn Sie die Spitze kappen wollen, müssen Sie unten ansetzen. Konkreter: Wenn Sie die Zahl tödlicher und schwerer Arbeitsunfälle verringern wollen, müssen Sie bei den Beinahe-Unfällen ansetzen. Es muss darum gehen, die vielen Beinahe-Unfälle, die kritischen Situationen, die riskanten Handlungen, die vielen Fälle von „gerade noch mal gut gegangen“ zu minimieren. Nur dann beugen Sie leichten Unfällen, schweren Unfällen und solchen mit tödlichem Ausgang vor.
Deshalb ist es wichtig, dass Sie nicht nur die meldepflichtigen (also schweren) Unfälle erfassen, sondern auch
- leichte Verletzungen.
- Unfälle ohne Verletzung, aber mit Sachschaden.
- Beinahe-Unfall, riskante und „heikle“ Situationen.
- Unfälle und Verletzungen von Besuchern und Nicht-Versicherten in Ihrer Arbeitsstätte oder auf Ihrem Betriebsgelände wie Lieferanten, Kunden, Gäste usw.
Nur mit einer umfassenden Erfassung und Analyse von Arbeitsunfällen und unfallnahen Ereignissen in Ihrem Unternehmen legen Sie die Basis dafür, Sicherheitsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln und das Sicherheitsniveau kontinuierlich zu verbessern.
Dies gilt analog auch für das Erfassen von Ausfalltagen, um Ihre Maßnahmen zum Gesundheitsschutz weiterzuentwickeln.
Aus Fehlern lernen: Melden, sammeln und kommunizieren
Jeder Mensch macht Fehler. Kein Mitarbeiter arbeitet stets fehlerfrei. Und Fehler wirken sich ganz unterschiedlich auf die körperliche Unversehrtheit aus. Bei einem Piloten, Busfahrer oder Chirurgen hat ein Fehler eher schwerwiegendere Folgen als bei einem Zeitungsredakteur oder Friseur.
Die Luftfahrt gilt in Sachen Fehlermanagement als Vorreiter. Nicht ohne Grund ist dort eine Fehlerdokumentation verpflichtend. Gerade die Fehlerkultur spielt eine große Rolle für eine Auswertung des Unfallgeschehens in einem Betrieb: Wie gehen Mitarbeiter mit Fehlhandlungen um? Wie werden Fehler erkannt? Inwiefern herrscht eine Arbeitsatmosphäre, in der aktiv aus Fehlern gelernt wird? Das sind Fragen zur Fehlerkultur, mit denen sich das Fehlermanagement beschäftigt.
Schaffen Sie eine Lernkultur statt Fehlerkultur
Fehlerkultur ist ein etwas unglücklich gewählter Begriff. Denn Fehler sollen nicht kultiviert werden wie Blumen oder ein Gemüsebeete. Der Begriff „Lernkultur“ drückt besser aus, dass ein Unternehmen von der Art und Weise
des Umgangs mit Fehlern wie zum Beispiel einem Beinahe-Unfall, langfristig profitieren kann.
Versuchen Sie, Fehler von Mitarbeitern nicht zwangsläufig allein negativ zu betrachten. Ein Fehler kann ein gescheiterter Versuch sein, etwas besser zu machen. Das Scheitern muss nicht tragisch sein. Aber man kann daraus lernen. Schon allein die Situation, dass ein Mitarbeiter seinen Fehler offen anspricht, beschreibt und Hergang und Hintergründe erläutert, führt zu einem Lerneffekt.
Ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter daher dazu, auch einen Beinahe-Unfall zu melden. Das sind alle unerwünschten Ereignisse, die – in diesem konkreten Fall – ohne schwerwiegende Konsequenzen geblieben sind, aber einen Schaden oder eine Verletzung zur Folge haben könnten. Voraussetzung dafür ist ein transparentes und vertrauensvolles Betriebsklima. Niemand sollte Scheu davor haben oder Spott oder Tadel befürchten müssen, wenn er zugibt, dass ihm „beinahe“ etwas passiert wäre. Im Gegenteil.
Lassen Sie auch Beinahe-Unfälle melden
Hilfreich auch im Sinne der Unfallprävention ist es daher, nicht nur Arbeitsunfälle, sondern auch (s. Unfallpyramide) Fehlhandlungen, Beinahe-Unfälle und riskante Situationen
- zu melden (E-Mail, anonymer Briefkasten …),
- zu sammeln,
- auszuwerten und
- das Ergebnis der Auswertung innerbetrieblich zu kommunizieren.
Dies ist auch ein Thema für Ihre Unterweisungen. Machen Sie Ihren Mitarbeitern deutlich: Schon allein das Mitteilen und Weitergeben eines Beinahe-Unfalls kann verhindern, dass anderen dasselbe passiert und es irgendwann mal nicht mehr beim „Beinahe“ bleibt.
Mehr zum Thema: Der unerlässliche Unfallbericht – Aber wie wird er verfasst?
Autor: Friedhelm Kring
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Die folgenden 10 Fragen helfen Ihnen dabei, Unfälle und Beinaheunfälle zu analysieren (DOCX)