Gefährdungsbeurteilung Baustelle: Zwar ist die Zahl der Unfälle auf Baustellen in den letzten Jahren gesunken, im Vergleich zu anderen Branchen leben Bauarbeiter jedoch gefährlicher. Doch Abstürzen ist nicht das einzige Risiko bei Bauarbeiten. Dazu kommen weitere Gefahren wie beispielsweise durch schwere Maschinen oder umkippende Lasten und je nach Tätigkeit auftretende Gesundheitsbelastungen durch Lärm, Vibrationen, Stäube oder Gefahrstoffe. All diese Risiken müssen Sie in Ihren Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigen.
Fakten zum Arbeitsplatz Baustelle:
- Das Baugewerbe belegt Platz 1bei den Arbeitsunfallstatistiken nach Branchen.
- Die Unfallquote lag in den letzten Jahren bei mehr als 55 Fällen pro 1.000Bauarbeiter.
- Fast 40 % aller gemeldeten tödlichen Arbeitsunfälle in Deutschland passieren auf Baustellen.
- Häufigste Todesursache auf Baustellen sind Abstürze. Mehr als die Hälfte dieser Abstürze geschehen nach „innen“.
Erfassen Sie die Gefährdungen am Bau vollständig
Zunächst sollten Sie den Rahmen der Gefährdungsbeurteilung der Baustelle abstecken. Bauarbeiten sind ein weites Feld mit ganz unterschiedlichen Arbeitssituationen. Soll lediglich ein Treppenhaus neu gestrichen werden oder sind Sie für den Arbeitsschutz bei einem Neubauprojekt zuständig mit einer Vielzahl von Fahrzeugen, Maschinen und Tätigkeiten? Es kann daher keine Muster-Gefährdungsbeurteilung geben, die jederzeit und universell anwendbar ist. Ein Estrichleger ist anderen Gefährdungen ausgesetzt als ein Zimmerer, ein Baggerfahrer wird anders belastet als ein Maurer.
Bautätigkeiten konkretisieren
Legen Sie daher stets fest, auf welche Bautätigkeiten sich die Gefährdungsbeurteilung der Baustelle beziehen soll, um möglichst konkret die jeweiligen Gefährdungen ermitteln zu können, z.B.:
- Handelt es sich um Hoch-, Tief- bzw. Straßenbau oder eine spezielle Situation wie Abbrucharbeiten, Sanierung, Renovierung, Innenausbau, Messebau etc.?
- Finden die Arbeiten im Freien statt oder innerhalb von Gebäuden?
- Wird auf hochgelegenen Arbeitsplätzen wie Dächern oder Gerüsten gearbeitet?
- Finden Bauarbeiten in der Nähe öffentlicher oder innerbetrieblicher Verkehrswege statt?
- Müssen Baugruben, Gräben oder Schächte ausgehoben werden?
- Wird Gestein, Kies, Sand usw. abgebaut oder abgekippt?
- Welche technischen Einrichtungen müssen aufgebaut und genutzt werden wie Gerüste, Schuttrutschen, Mulden, Container usw.?
- Werden Erdarbeiten in der Nähe von Versorgungsleitungen für Wasser, Gas, elektrischen Strom, Fernwärme usw. durchgeführt?
- Werden Schalungs- und Armierungsarbeiten vorgenommen?
Konkretisieren Sie, welche Tätigkeiten durchgeführt werden wie z.B. Einschalen, Pflastern, Verputzen, Dachdecken, Abriss etc. und welche Arbeitsmittel und Materialien dabei genutzt werden.
Gefährdungsaspekte erkennen
Durch das Definieren von Art und Umfang Ihres Bauprojekts ergeben sich bereits viele wichtige Aspekte für das Ermitteln der Gefährdungen, z.B.
- Werden schwere Erdbaumaschinen eingesetzt, können Bauarbeiter angefahren oder eingequetscht werden.
- Bei Kranen drohen nicht nur herabfallende Lasten.
- Kommen Leitern, Gerüste oder Hebebühnen zum Einsatz, müssen Sie die Absturzgefahren berücksichtigen, ebenso bei Baugruben, an Aufzugsschächten usw.
- Arbeitsmittel wie Baustromverteiler, Druckluftkompressoren, Schweißgeräte, Kreissägen usw. bringen ihre jeweils eigenen Risiken mit sich, etwa bei falscher Benutzung, Mängeln an Schutzeinrichtungen oder fehlender PSA.
- Je nach Tätigkeit können gesundheitsschädliche Stäube auftreten. Bei Bohrarbeiten im Innenausbau entstehen Stäube, bei Abbruch- oder Sanierungsarbeiten müssen Sie mit Biostoffen (Taubenkot, Schimmel) rechnen usw.
- Eingesetzte Baumaterialien wie Mörtel, Bitumen, Lacke, Schalöle u. v. a. können Gefahrstoffe enthalten.
Vorliegende Dokumente nutzen
Bei umfangreichen Bauprojekten werden Sie nicht alle diese und weitere Aspekte in einer einzigen Gefährdungsbeurteilung abdecken können. In vielen Fällen können Sie auf bestehende Gefährdungsbeurteilungen für bestimmte Tätigkeiten zurückgreifen oder verweisen. Das trifft z.B. auf wiederkehrende Abläufe unter gleichen Bedingungen zu. Nutzen Sie zudem:
- die Betriebsanweisungen der eingesetzten Fahrzeuge, Maschinen und Elektrogeräte.
- die Sicherheitsdatenblätter der verwendeten Substanzen.
- das Gefahrstoff-Informationssystem der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (GISBAU) unter http://www.bgbau.de/gisbau.
Je nach Bauvorhaben können weitere spezielle Gefährdungsaspekte hinzukommen, die Sie als Sifa nicht allein bewältigen müssen, sondern die vorab so weit als möglich mit Bauleitung, Architekten, Planern, Behörden, Versorgungsunternehmen usw. zu klären sind, z.B.
- Je nach Region besteht die Gefahr, dass Ihre Mitarbeiter bei Aushubarbeiten auf Munition und Kampfmittel stoßen.
- Bei Abbrucharbeiten von zwischen etwa 1930 und 1993 errichteten Gebäuden – das sind etwa 50 % des gesamten Baubestands – müssen Sie die möglichen Asbestbelastungen ermitteln.
- Bei Baustellen in der Nähe von Hochspannungsleitungen ist deren Nähe zu Kranen zu berücksichtigen usw.
- Beim Tief- und Straßenbau sollten Sie auf mögliche Versorgungseinrichtungen achten (Gas, Strom, Wasser).
Schutzmaßnahmen festlegen, koordinieren und kommunizieren
Bei der „Gefährdungsbeurteilung Baustelle“ dürfen Sie sich nicht auf typische Risiken, wie Bagger oder Gerüste beschränken. Folgende Situationen führen häufig auch zu Verletzungen von Bauarbeitern.
Häufige Unfälle und Gegenmaßnahmen
- Rückwärtsfahrende Baumaschinen – eindeutige Sicherheitsregeln mit Sicherheitsabständen, Nachrüstung mit Kamera-Monitor-Systemen, niemals ohne Einweiser
- Von Kranen, Gerüsten oder Dächern herabfallende Materialien und Gegenstände – Kopfschutz durch Helme
- Rutschen aufgrund von Nässe, auf Kies, Sand usw. – Fußschutz durch Sicherheitsschuhe, Sauberhalten von Arbeitswegen
- Absturz durch plötzlich einbrechende Dachflächen, Oberlichter, Lichtkuppeln usw. – Durchtrittsicherheit prüfen, unsichere Laufwege absperren, Sicherungsnetze, Absturzsicherung
- Umkippende Lasten, z. B. umstürzende Schalungselemente oder kippende Stapel von Baumaterialien – Ladungen sicher und eben abstellen, Lasten sichern
- Funkenflug und Brände durch feuergefährliche Arbeiten, z.B. Schweißen oder Verschweißen von Dachbahnen – Freigabeverfahren mit Erlaubnisschein, Löschmittel, ggf. Brandwachen
Dazu kommen auf Baustellen typischerweise Gefährdungen durch Staub und Lärm, je nach Jahreszeit auch eine hohe UV-Belastung sowie Hitze.
Substitution als oberste Schutzmaßnahme
Am Beispiel „Schutz vor Stäuben“ wird das STOP-Prinzip besonders deutlich. Beim Auswählen von Schutzmaßnahmen müssen Sie mit der Substitutionsmöglichkeit beginnen. Einige Materialien wie Mörtel werden inzwischen in Pelletform angeboten, was es Ihnen deutlich erleichtert, die Staubgrenzwerte der TRGS 900für A und E-Stäube einzuhalten. Substitution kann auch durch Wahl einer anderen Arbeitsmethode, etwa ein Nassschneideverfahren statt Trockenbearbeitung, erfolgen.
Ist eine Substitution nicht möglich, stehen technische Maßnahmen an wie Absaugungen an stauberzeugenden Maschinen. Darauf folgen organisatorische Maßnahmen wie z. B. Verbote für das Kehren und Abblasen staubbelasteter Oberflächen. Ganz zum Schluss kommen die personenbezogenen Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Atemschutzmasken zum Einsatz.
Diese STOP-Rangfolge ist verbindlich und gilt auch für die Auswahl von Schutzmaßnahmen gegen andere auf Baustellen häufige Gesundheitsgefährdungen wie Gefahrstoffe, Lärm oder Vibrationen. Zu den Schutzmaßnahmen insbesondere auf Baustellen im Freien gehört auch die Ausstattung Ihrer Mitarbeiter mit geeigneter Kleidung. Diese muss der Witterung angepasst sein und vor Nässen und Kälte schützen, im Sommer aber ebenso vor Hitze und UV-Strahlung der Sonne.
Haben Sie stets auch ein Auge auf die Elektrosicherheit bei der „Gefährdungsbeurteilung Baustelle“. Eine Vielzahl an elektrisch betriebenen Maschinen und Geräten, dazu schwere Baufahrzeuge, Nässe und oft grobe Untergründe stellen hohe Anforderungen an die temporären Elektroinstallationen. Baustromverteiler, Schaltanlagen, Übergabepunkte und Leitungen sowie alle elektrischen Betriebsmittel müssen von einer Elektrofachkraft geprüft werden.
Detaillierte Hinweise zum Auswählen und Betreiben von elektrischen Anlagen und Betriebsmitteln auf Baustellen liefert Ihnen die DGUV-Information 203-006.
Unverzichtbar auf Baustellen: die Persönliche Schutzausrüstung
Ein Ziel Ihrer Gefährdungsbeurteilung der Baustelle ist es auch zu ermitteln, bei welchen Tätigkeiten welche Persönliche Schutzausrüstung (PSA) erforderlich ist. Es gibt in Deutschland entgegen der landläufigen Meinung keine gesetzliche Pflicht, grundsätzlich auf Baustellen einen Helm zu tragen.
Ein Schutzhelm wird jedoch bei fast allen Bauarbeiten unverzichtbar sein, denn Gefahren durch Anstoßen und herabfallende Gegenstände können Sie kaum sicher ausschließen.
Auch Sicherheitsschuhe sind in aller Regel vorzusehen. Denn auf Baustellen bestehen nicht nur Rutsch- und Stolpergefahren. Es können auch Materialien und Werkzeuge auf den Fuß fallen und diesen in einem Schuh ohne Stahlkappe verletzen.
Während sich Schutzhelm und Sicherheitsschuhe auf Baustellen weitgehend durchgesetzt haben, wird der Schutz von Augen und Ohren oft noch vernachlässigt. Klären Sie in Ihrer Gefährdungsbeurteilung auch, bei welchen Tätigkeiten Ihre Mitarbeiter eine Schutzbrille benötigen und wann einen Gehörschutz. Bei vielen Tätigkeiten, insbesondere im Innenausbau, entstehen Stäube.
Dabei hat nicht nur der Bauherr die Pflicht, die Belästigung von Dritten wie etwa Anwohnern zu minimieren. Jeder Arbeitgeber von auf einer Baustelle beschäftigten Mitarbeitern muss zudem sicherstellen, dass deren gesundheitliche Belastung reduziert wird. Insbesondere Holz- oder Quarzstäube gelten als besonders gesundheitsbelastend.
Nutzen Sie finanzielle Unterstützung: Vom Bau-Entstauber über mobile Personenschutzschalter (Fehlerstrom- Schutzeinrichtungen) bis zu Kleinpodesten und Seitenkameras für Bagger fördert die BG BAU die Anschaffung oder auch Nachrüstung von Arbeitsmitteln mit bis zu 2.000€. Alles Weitere unter http://www.bgbau.de/praev/arbeitsschutzpraemien.
Die Gefährdungsbeurteilung muss Zuständigkeiten eindeutig festlegen
Bei Bauarbeiten läuft selten alles exakt nach Plan. Teilarbeiten dauern länger als geplant oder Bauteile kommen verspätet an, auch Witterungseinflüsse führen zu Verzögerungen. Nicht nur vor Beginn der Baumaßnahme, auch während der Bauarbeiten sollten Sie daher stets darauf achten, dass Zuständigkeiten für Sicherheitsbelange eindeutig geklärt sind.
Verantwortlichkeiten definieren
Die Unfallgefahr für Ihre Mitarbeiter sinkt, wenn jederzeit zuverlässig gesorgt ist für z.B.
- die Beleuchtung der Baustelle
- die sichere Versorgung mit Strom, Wasser, ggf. Druckluft, Schweißgasen usw.
- Feuerlöscher und andere Brandschutzmaßnahmen
- Notfallmaßnahmen und Alarmpläne, bei großen oder unübersichtlichen Baustellen auch Flucht- und Rettungspläne
- die Sicherstellung von Erster Hilfe und Rettung, z.B. genügend Ersthelfer, ab 100anwesenden Beschäftigten auch Betriebssanitäter
- die Abnahme von Gerüsten
- die Entsorgung von Abfällen
- die Sicherheitskennzeichnungen nach ASR A1.3.
Auch einige Technische Regeln für Arbeitsstätten (ASR) enthalten eigene Kapitel mit abweichenden oder ergänzenden Anforderungen für Baustellen, z.B. die ASR A1.8 zu Verkehrswegen, die ASR A3.4zur Raumtemperatur, die ASR A4.1zu Sanitärräumen. Auch bei diesen Anforderungen zur Arbeitssicherheit und zum Gesundheitsschutz sollte geklärt sein, wer sich darum kümmert.
SiGe-Plan und Baustellenordnung: So kommuniziert der Bauherr Maßnahmen
Wenn– etwas vereinfacht ausgedrückt– auf einer Baustelle Mitarbeiter unterschiedlicher Firmen zusammenarbeiten, muss der Bauherr laut der Baustellenverordnung (BaustellV) einen Sicherheits-und Gesundheitsschutzkoordinator (SiGeKo) bestellen. Dieser hat die Aufgabe, gewerkeübergreifend die erforderlichen Schutzmaßnahmen und Sicherheitsregeln festzulegen, zu koordinieren und deren Einhaltung zu kontrollieren. Durch die Vergabe von Aufträgen an Sub- und Sub-Sub-Unternehmen kann auf einer Baustelle die Verantwortung leicht diffundieren. Der Koordinator soll dem entgegenwirken.
Bei Zusammenarbeit mehrerer Unternehmen: Schutzmaßnahmen koordinieren
Gleichzeitig sind alle Beteiligten zur Koordination aufgerufen. Insbesondere wenn es durch die räumliche Nähe zu Mitarbeitern anderer Baufirmen zu gegenseitigen Gefährdungen kommen kann, müssen Sie sich mit den Kollegen der anderen am Bau beteiligten Betriebe abstimmen. Sie können sich gegenseitig bei Ihren Gefährdungsbeurteilungen unterstützen, ggf. gemeinsam Schutzmaßnahmen festlegen und einen Aufsichtsführenden benennen.
Der SiGeKo kann die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilungen der auf einer Baustelle arbeitenden Firmen und Gewerke für das Erstellen des Sicherheits- und Gesundheitsschutzplans (Si-Ge-Plan) nutzen. Ein solcher SiGe-Plan wird spätestens dann notwendig, wenn mehrere Unternehmen auf einer Baustelle aktiv sind und dort besonders gefährliche Arbeiten (s. Anhang II BaustellV) ausführen. Erkennt der SiGeKo Unzulänglichkeiten in Ihrer Gefährdungsbeurteilung oder dass Ihre Mitarbeiter Sicherheitsvorschriften missachten, sollte er Sie darauf aufmerksam machen.
Ergänzt werden kann der SiGe-Plan durch eine Baustellenordnung. Diese regelt tätigkeitsübergreifende Aspekte, wie etwa zum Lärmschutz für Anwohner, zu Sauberkeit und Ordnung oder übergreifenden Tragegebote für PSA. Diese Vorgaben müssen Ihre Mitarbeiter, die sich auf einer Baustelle bewegen, einhalten.
Autor: Dr. Friedhelm Kring